Mittwoch, 20. Oktober 2010

„Die Leute raus – Mieten hoch – bumm – ganz normal, Kapitalismus oder wie sagt man“

Zur "Leerstand zu Wohnraum"-Demo am Samstag (13:00, Unicampus von-Melle-Park) hier ein Artikel aus der August-Ausgabe der Solidarität (Nr. 93)


Gentrification à la Hamburg-St. Pauli
Das Zitat über den Hamburger Stadtteil St. Pauli aus dem Film „Empire St. Pauli“ könnte es treffender nicht ausdrücken. Seit Jahren werden – nicht nur – in Hamburg ehemalige Arbeiter- und Armutsbezirke, zumeist in innerstädtischer Lage, schick und teuer gemacht, im Fachjargon „gentrifiziert“.

von Linda Fischer, Hamburg

Vor 20 Jahren galt St. Pauli als „Armutsstadtteil“, dies hat sich rasant gewandelt. Die Mieten kletterten in den letzen 15 Jahren von 7,70 Euro auf über elf Euro. Die logische Folge ist, dass die ärmeren Bevölkerungsschichten verdrängt werden. MigrantInnen sind meist die ersten, die „gehen müssen“. Der Anteil der BewohnerInnen ohne deutschen Pass ist zum Beispiel von über 40 Prozent Mitte der neunziger Jahre auf 27,1 Prozent gesunken. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die SAGA, das städtische Wohnungsunternehmen in Hamburg, bei ihrer Bewerberauswahl auf den Nachnamen schaut (Yilmaz = aussortiert).

Wohnen – mehr als nur ein Dach über den Kopf?

Durch das gestiegene Image des Stadtteils werden Unternehmen angezogen und exklusive Büro- und Wohnhäuser neu gebaut. Kleine, günstige Geschäfte werden durch teure Lokale ersetzt, Freiräume kommerzialisiert. Für die (ehemaligen) Bewohner hat dies dramatische Folgen: Eine Frau lebte seit vielen Jahren in St. Pauli, erzählte von einem großen Zusammenhalt unter den Nachbarn. Als sie arbeitslos wurde, ihre Kinder auszogen, war die Wohnung für Hartz IV zu groß. Eine kleinere, bezahlbare Wohnung in St. Pauli gab es nicht mehr. Nun wohnt sie, wie viele, in einem anderen, anonymen Stadtteil.
Noch ein Beispiel: Es gab eine Kneipe, die war (wie einige weitere Gaststätten) für viele Gäste gesellschaftlicher Treffpunkt, manchmal Sozialstation. Die Wirtin half beim Ausfüllen der Amtsanträge. Das Haus wurde abgerissen, die Kneipe ist nun weg, und damit „das Wohnzimmer“ vieler Gäste.
Gleichzeitig sind viele Großwohnsiedlungen in verschiedenen Gebieten von Hamburg heute durch leer stehende Geschäfte geprägt, soziale und kulturelle Einrichtungen, Schulen machen dicht, da ihnen die Gelder gekürzt werden. Das ist paradox: St. Pauli wird dir genommen, da du dir den Stadtteil nicht mehr leisten kannst, und in vielen anderen Stadtteilen entsteht „Wohnqualität“ erst gar nicht.

Ursachen

Es heißt, Gentrifizierung beginnt mit den „Pionieren“ (Künstler, Alternative), die in ein Gebiet ziehen, da es günstig und zentral ist. Der Stadtteil wird dadurch für andere Gruppen interessant. Doch das Problem sind nicht die „Pioniere“, sondern der Kapitalismus: Das essenzielle Bedürfnis „Wohnen“ wird zur Ware. Über die Höhe der Miete entscheidet nicht das Konto des Mieters, und über Investitionen entscheidet die „Wirtschaftlichkeit“.
Oft wird erst die Infrastruktur über Jahrzehnte vernachlässigt, um dann durch neue Investitionen steigende Grundstückswerte und Mieten zu erzielen. Die SAGA hat zum Beispiel in Wohnhäuser so lange nicht investiert, bis diese baufällig und abgerissen wurden, um sie durch teurere zu ersetzen.
Die Politiker sind dabei treibende Kraft: „Die Künstler kommen zuerst, dann wird der Stadtteil aufgewertet. Gentrifiziert“, so der Bezirksamtsleiter von Hamburg-Mitte, Markus Schreiber (SPD) über seine Arbeit.

Widerstand

Es regt sich in vielen Städten Widerstand, leider meist personell, thematisch und räumlich auf die „Szenegebiete“ begrenzt. Es wird oft nicht geschafft, eine allgemeine Bewegung für bezahlbaren und lebenswerten Wohnraum voranzutreiben. In Hamburg gibt es auch breitere Ansätze, wie eine Mieterinitiative von SAGA-MieterInnen, die sich gegen Mieterhöhungen wehren. Wenn beispielsweise kollektiv beschlossen würde, einen Mietboykott zu organisieren, könnte großer Druck auf die Wohnungsunternehmen ausgeübt werden. Wenn sich diese Bewegung dann mit Protesten gegen andere Kürzungen zusammentun würde, ließe sich umso mehr Durchschlagskraft erreichen.
Gefordert werden sollte: Alle Wohnungen in öffentliches Eigentum, kontrolliert und verwaltet durch die MieterInnen! Keine Miete höher als 20 Prozent des Einkommens! Für ein öffentliches Investitionsprogramm in den Stadtteilen zum Ausbau der kulturellen, sozialen, infrastrukturellen Einrichtungen!

 

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